Dirks Suchtgeschichte
Man hört und liest immer wieder Berichte in der Art „…und da wollte ich nicht mehr trinken“, „… seit dem Tag bin ich trocken“ oder „Ich hatte nie eine Entgiftung oder Therapie“.
Schön, wenn’s so einfach klappt, und ich gönne es jedem.
Meine Geschichte wird ein bisschen länger…
Wir schreiben das Jahr 2013. Mein Name ist Dirk, geboren als Einzelkind 1968, und seit ca. 2003 muss ich rückwirkend sagen: Alkoholkrank. Die Einsicht dazu reifte im Jahre 2007, und 2008 begab ich mich das erste Mal in eine Entgiftung. Es ging zwei Jahre gut, dann folgten einige Rückfälle bzw. eher nasse Phasen, und seit meiner zweiten Langzeittherapie von Anfang November 2012 bis Ende Januar 2013 bin ich trocken und bislang zufrieden – dies, obwohl (oder vielleicht gerade weil?) sich während dieser Zeit die Trennung von meiner Frau ergab. Die Scheidung wird wahrscheinlich im August diesen Jahres ausgesprochen.
Ob meine Kindheit „ganz normal“ war, wie viele andere von sich erzählen, weiß ich nicht. Was ist schon normal? Fakt ist jedenfalls, dass in der mütterlichen Linie der Alkoholismus stark vertreten war: Opa, Onkel, eine Großtante waren Alkoholiker; alle waren soweit ich weiß jahre- bis jahrzehntelang trocken bis zu ihrem Tod. Ebenfalls stark vertreten in der mütterlichen Linie war Krebs. Oma, Uroma, Tante, Großtante, Mutter starben alle an Krebs; meine Mutter 1991. Da war ich 23. Als ich 29 war, waren sie alle weg.
In der väterlichen Linie sind bis in „graue Vorzeit“ Depressionen verfolgbar. Sie zeigten sich bei meiner Oma und auch bei meinem Vater, der im Grunde den Tod seiner Frau (meiner Mutter also) nie verwunden hatte.
Ein einschneidendes Ereignis in meinem Leben war ein Verkehrsunfall im Jahre 1973, bei dem ich nicht beteiligt war, aber meine Großeltern väterlicherseits und meine Mutter. Auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit wurde ihr Auto von einem entgegenkommenden Fahrzeug gerammt. Mein Großvater starb an der Unfallstelle, meine Großmutter und meine Mutter lagen mit schweren Verletzungen monatelang im Krankenhaus.
Ich hatte schon sehr früh Kontakt mit Alkohol, bereits im Vorschulalter durfte ich durchaus mal ein Eis mit Eierlikör haben oder auf Feiern einen Schluck Bowle nippen – war ja in den 1970ern stark in Mode. Überhaupt hat man mir sowohl im Elternhaus als auch in der Verwandt- und Bekanntschaft einen sehr lockeren Umgang mit Alkohol vorgelebt: Er war quasi ständig präsent. Bei meinen Eltern gehörte zumindest seit meiner Schulzeit für meinen Vater das Bier zum Abendbrot, und für beide gab es eigentlich jeden Abend mehrere Cola- Bourbons.
Ich selbst hatte dann so im Alter von 16 Jahren den „normalen“ Zugang und Konsum, also gelegentlich mal ein Bier; auf Feiern mit Freunden auch mal etwas mehr und auch mal etwas anderes. Und natürlich war da auch der eine oder andere Absturz mit bei, inclusive Kotzeimer am Bett und der Frage „Wann und wie bin ich nach Hause gekommen?“ Aber das war bei allen meinen Freunden so, und es war weit von dem entfernt, was heute abgeht, wenn die Kinder sich im Alter von zwölf Jahren regelmäßig zudröhnen. Bei uns galt von den Eltern aus das Motto: „Sie sollen ihre Erfahrungen machen, aber in sicherer Umgebung.“
Es war dann auch so die Zeit, in der ich die Ansicht entwickelte, meine Mutter tränke zu viel. Oftmals kam der Weinbrand schon am Nachmittag aus dem immer gut bestückten Barfach, entweder „gegen Kopfschmerzen“, „gegen Magenschmerzen“ oder „nur so, weil Feierabend ist“. Ich habe ihr auch deutlich gesagt, dass ich das nicht in Ordnung finde und es mich ziemlich genervt hat, wenn ich etwas von ihr wollte und sie kam entweder nicht aus dem Knick oder war durchaus schon ein bisschen lallig.
Klar, wie schon gesagt: Auch Vadders hat nicht ins Glas gespuckt, aber der war wenigstens immer nüchtern, wenn er nach Hause kam und zeigte irgendwie auch nie Ausfallerscheinungen – ja, gut, außer bei „Party ganz spät“. Allerdings hatten beide abends oft Streit, manchmal recht lautstark, aber soweit mir bekannt immer ohne körperliche Gewalt. Die habe ich eines Tages angewandt und meinem Vater eine geknallt, weil er (so meine Sicht) wieder Streit angefangen hatte und meine Mutter terrorisierte. Es war eine Zeit, in der ich mich zu Hause nicht wohlfühlte.
Während meiner Kindheit und Jugend sah ich also fortlaufend Familienmitglieder sterben, fast alle aus der mütterlichen Linie, alle an Krebs. 1991 war es meine Mutter im Alter von 43 Jahren. Das war eine Zeit, in der ich mit meinem Vater oftmals länger zusammen saß und Alkohol einen festen Platz im Leben einnahm. Manchen Sommerabend haben wir am Grill auf der Terrasse verbracht und zusammen ein Fünfliterfässchen Bier geleert mit ’ner Flasche Kräuterlikör dazu.
Als ich 1995 meine jetzige (zukünftige Ex-)Frau kennenlernte, habe ich meinen Konsum freiwillig auf fast Null heruntergeschraubt. Vielleicht ein Bier am Abend, und wenn nicht, dann nicht. Das blieb so zwei, drei Jahre durchaus im gesitteten Bereich.
1997 haben wir geheiratet, und nach einigen Jahren fand ich unsere Ehe in einem gewissen Bereich nicht mehr wirklich rund: Es ging sexuell immer mehr ins Eintönige, wenn denn überhaupt was stattfand. Wenn ich darüber reden wollte, wurde abgeblockt:
„Du denkst ja immer nur an das eine“, „Das ist normal, wenn es mit dem Sex weniger wird“,“Das war der Honeymoon-Effekt der ersten Zeit“,“Du weißt ja gar nicht, was andere Paare wirklich machen“,“Was die Zeitschriften da schon so schreiben, da hat doch keiner Lampe gehalten“ usw. usf.
Da kam schon leise schleichend bei mir die Frage: „Hol‘ ich mir jetzt wieder ’ne Abfuhr oder gleich ’n Bier?“ Es ergab sich dann irgendwie auch der Kreislauf: „Wenn Du getrunken hast, läuft nichts!“ – „Da ja eh nichts läuft, kann ich gleich einen trinken…“ Es war aber so, dass wir durchaus noch Gemeinsamkeiten hatten und die Ehe an sich nicht in Frage gestellt war.
Zeitweise, es muss so um 2000 herum gewesen sein, hat meine Frau auch ganz gut zugelangt. Wochenends haben wir beide manchmal drei Flaschen Rotwein am Abend durchgezogen, ich dazu draußen beim Rauchen noch das eine oder andere Bier. Es war eine Phase, in der meine Frau mit ihrer beruflichen Situation nicht zufrieden war und den Alkohol zur Entspannung und Frustrationsbekämpfung ge- bis missbraucht hat. Sie hat da eines Tages jedoch einen Schlussstrich gezogen, jahrelang überhaupt keinen Alkohol getrunken und kann heute einen gelegentlich, kontrollierten Konsum genießen – ist also rechtzeitig abgesprungen, ehe es wirklich zur Sucht wurde.
Im Jahre 2003 starb mein Vater unter rätselhaften Umständen. Wie schon gesagt, hat er den Tod meiner Mutter nie verwunden und wollte nicht aus sich heraus und auch niemanden an sich heranlassen. Nicht einmal eine Haushaltshilfe hat er sich nehmen wollen, obwohl er sich das durchaus hätte leisten können – da wäre ja jemand Fremdes im Haus gewesen und hätte womöglich Sachen meiner Mutter angefasst… Das ging also gar nicht. Freunde? Tja, wenn, dann waren es meistens gleichzeitig Mandanten. Das zog merkwürdige Verflechtungen nach sich.
Wie dem auch sei, mein Vater zog sich immer mehr zurück, kapselte sich regelrecht ab, und mehr oder weniger zufällig erfuhr ich kurzfristig von ihm, dass er ins Krankenhaus müsste, „sich mal durchchecken lassen“. Er dokterte seit Wochen an einer hartnäckigen Erkältung herum. Die Wahrheit war, er wurde mit einer verschleppten Lungenentzündung gleich auf die Intensivstation verfrachtet. Die Lunge wurde punktiert usw. Durch jahrzehntelanges, starkes Rauchen war die Lunge bereits in Mitleidenschaft gezogen, was die Behandlung sehr erschwerte. Man verlegte ihn in eine Lungen-Fachklinik, zwei Monate wechselnd zwischen Wachzustand und künstlichem Koma, Luftröhrenschnitt und Haste-nich-gesehn.
Freunde verlangten von mir quasi, ich hätte ihn dort jeden Tag zu besuchen. Ich fühle mich jedoch in Krankenhäusern alles andere als wohl, und gegenüber der Gestalt, die wohl irgendwie mein Vater war / gewesen ist / sein sollte, war ich vollkommen hilflos. Ich habe es einfach nicht ausgehalten, inmitten von piependen Apparaten neben einer scheinbar leblosen Gestalt zu sitzen. In dieser Zeit habe ich den Alkohol selbst ganz bewusst eingesetzt, um zu verdrängen, zu vergessen, nicht mehr wahrnehmen zu müssen. In dieser Zeit ist bei mir – so sage ich aus heutiger Sicht – der Schalter umgekippt.
Das Haus, in dem mein Vater wohnte (und bis vor [damals] wenigen Jahren auch ich!), war völlig verwahrlost. Nichts war mehr saubergemacht, das Dach war undicht, die Sicherung raus, die Küche war verwüstet, Wasser lief aus dem Boiler in den Keller, ein abgetauter Gefrierschrank mit gammelndem Fleisch stank im Sommer in der Küche vor sich hin. Leere Weinbrandflaschen, Post, Zeitungen und Altpapier von Monaten stapelten sich. Ich stand allein davor und wurde damit nicht fertig.
Im Juli 2003 starb mein Vater in der Klinik an Multiorganversagen. Ich erkannte, dass ihn Alkohol und Depressionen dahin gebracht hatten, wo er war: Er hatte nicht auf seinen Körper gehört, keine Hilfe gesucht, keine Hilfe angenommen und, so weiß ich heute, sich letztendlich aufgegeben. Das hätte ich nicht ändern können, und somit trage ich keine Schuld – das ist wichtig für mich.
Aus dieser ganzen Geschichte erwuchs bei mir Angst. Mehrere Ängste. Angst vor Krebs aus der mütterlichen Linie. Angst vor Depressionen aus der väterlichen Linie. Ich selbst laborierte zu der Zeit an einem Bandscheibenvorfall herum, stand schon kurz vor einer OP und hatte Angst, den Rest meines Lebens im Rollstuhl zu verbringen. Diese Ängste habe ich wiederum mit Alkohol betäubt.
Es war glaube ich 2004 oder 2005, als mir ein Arzt aufgrund meiner Blutwerte (Hallo, gammaGT!) und eines Gespräches den Rat gab, den Alkoholkonsum zumindest eine Zeitlang auszusetzen. Drei oder vier Wochen hat es auch geklappt, dann waren die Blutwerte wieder normal. Prost! Ihr kennt das…
Die folgenden Jahre waren irgendwie wirr. Angst mischte sich mit Erkenntnis, aus der Erkenntnis erwuchs Angst. Die Angst wollte betäubt werden, und es ergab sich wieder eine Erkenntnis: Die, dass ich auf dem besten Wege dahin war, wohin ich nicht wollte; auf dem Wege dahin, so zu enden wie mein Vater: Einsam, in Depressionen und im Alkoholrausch. Davor hatte ich wieder Angst. Das Feierabendbier kam immer früher, und irgendwann begann der Nachmittag schon rechnerisch beim Frühstück. Als Hausmann mit Nebengewerbe von zu Hause aus hatte ich ja relativ freie Zeiteinteilung und nur den Himmel über mir, beste Voraussetzungen für Dauerstrom also.
Mit mir war nichts mehr los. Ich habe lange im Bett gelegen, dann notdürftig den Anschein erweckt, im Haus was zu tun und habe mich dann wieder hingelegt, bis meine Frau nach Hause kam. Dann war ja bald die Zeit, zu der man ein Bier zu sich nehmen „durfte“, also im gesellschaftlich anerkannten Zeitrahmen. Ab da trank ich bis in die Nacht. Termine mussten inzwischen so gelegt werden, dass ich einerseits ausschlafen konnte, andererseits noch fahrtüchtig war. Die Brauchbarkeit des Tages war gering, die Einschränkungen enorm. Das System aus Logistik und Schauspielerei funktionierte noch ganz gut, bis ich irgendwann nichts mehr gebacken bekam. Ich war ein jammerndes Häufchen Elend. Schmerzen hier, Panik dort, Angst hiervor, Panik vor der Angst, Angst vor der Panik… Meine Frau und meine Stieftochter legten mir nunmehr auch nahe, Maßnahmen zu ergreifen.
Mein erster Versuch war, etwas gegen die Depressionen und Panikattacken zu unternehmen, die man bei mir inzwischen diagnostiziert hatte. Ich dachte, wenn es mir psychisch besser ginge, könnte ich auch auf den Alkohol verzichten. (Dass man es andersherum angehen muss, sagte mir meine Ärztin dann auch irgendwann später mal. Als ich sie drauf ansprach, fragte sie mich: „Hätten Sie mir das denn vorher geglaubt?“ – „Nein“, musste ich wahrheitsgemäß antworten…)
Es wirkte natürlich nicht.
Also las ich mich im Internet schlau und kam zu dem Schluss, dass ich mit dem Alkohol ein ernsthaftes Problem hätte. Eines Sonnabends schleppte ich mich in die Küche und sagte zu „meine Mädels“, dass ich mich am Montag vom Hausarzt zur Entgiftung einweisen lassen würde. Sie sollten es wissen, damit ich keinen Rückzieher machen könnte.
Die erste Enttäuschung kam beim Aufnahmegespräch in der Klinik: Ein „normales Verhältnis zum Alkohol“ wollte ich wiederherstellen, aber das ging nicht, sagte man mir. Also nie mehr Bier und Wein, wo ich beides doch auch selbst herstellte…! Da hatte ich zu knapsen…
Nach wenigen Tagen ging es mir deutlich besser, und nach einer Woche wollte ich Bäume ausreißen. Alles war toll, die Antidepressiva wirkten auch nach zwei Wochen, und ich wusste nun auch, dass ich bei Panikattacken keine Todesangst haben musste. Ich fühlte mich stark und stabil. Alles sollte so bleiben wie es war, nur durfte ich eben nicht mehr trinken. Die Selbsthilfegruppen, die sich während meines Aufenthaltes vorgestellt hatten, bestärkten mich in meiner Meinung: So etwas brauche ich nicht, ich komme da alleine mit klar!
Ich ging offen mit meiner Krankheit um. Wer mich näher kannte, wusste entweder ohnehin schon davon oder erhielt jetzt von mir eine klare Ansage, spätestens wenn Alkohol angeboten wurde. Es ging mir gut, und ich habe bewusst das nüchterne Leben genossen. Trotzdem hatte ich meine Probleme, wenn z.B. auf Feiern die anderen Leute lustig waren. Oftmals schlich sich da ein neidisches „…und ich darf nicht!“ in mein Hirn, und ich musste mich abgrenzen und zurückziehen.
Zwei Jahre ging es gut, aber irgendwo war es immer ein Kampf, dem Alkohol fernzubleiben. Und entgegen aller Warnungen, die man so hört und liest, habe ich alkoholfreies Bier probiert. Ich muss sagen, es schmeckte mir gut; war was anderes als die üblichen Getränke, die ja doch meist Süßkram sind – oder eben Wasser. Tatsächlich habe ich mich gefragt, warum denn in Bier überhaupt Alkohol drin sein müsste, denn es schmeckte ja auch so. Ich hatte eigentlich keine Angst, und wenn mich jemand fragte, ob das nicht gefährlich wäre, sagte ich: „Da ist ja noch der Kopf dazwischen!“
Es sind auch nicht die maximal verbleibenden 0,5% Alkohol (die hat u.U. auch ein zwei Tage angebrochener Apfelsaft!), sondern es sind Geschmack, „Look and Feel“, eben das Ritual des Biertrinkens. Und wenn wir mal betrachten, dass ich zeitweise am Abend fünf Halbe „Weizen bleifrei“ getrunken habe, ist das schon von der Menge her nasses Verhalten.
Es kam, wie es kommen musste: Irgendwann war ich neugierig und habe mal eine Flasche normales Bier mitgebracht. Schmeckte erst merkwürdig, dann aber besser als das Alkoholfreie. Mit dem Vorsatz „eine in der Woche nach dem Einkaufen“ habe ich mir dann kontrollierten Konsum eingeredet. Und es wurden zwei Flaschen, und ich war zweimal die Woche einkaufen, und es wurde ein Sixpack, und es wurde eine Elferkiste, und es wurden irgendwann wieder drei Kisten zu 20 Halben pro Woche. Also der alte Konsum von vier bis fünf Liter Bier pro Tag. Dadurch, dass ich Spiegeltrinker war, ist es niemandem aufgefallen, nicht einmal meiner Frau. Sie dachte, Bierfahne kommt auch vom Alkoholfreien.
So ging es ein halbes Jahr: Die Kisten mit alkoholfreiem Bier standen immer sichtbar im Keller, die mit dem „scharfen“ unsichtbar im Schrank. Ich habe allen etwas vorgemacht, und natürlich auch mir selbst, indem ich immer sagte: „Morgen ist Schluss“, „…noch das Wochenende…“, „Das nächste Mal Tischtennis bist Du nüchtern!“ u. dergl. m. Wenn ich mal einen Tag nicht trank oder erst abends, konnte ich mir ja vorlügen, die Sache im Griff zu haben.
Eines Morgens ging ich in den Keller und goss die letzten Biere in den Abfluss. Schluss, Ende aus! Endlich Ruhe. Dachte ich. Eine halbe Stunde später war mir ziemlich elend. Zittrig, Herzklopfen… Also ging ich wieder runter, suchte nochmal nach und entdeckte eine halbvolle Flasche vom Vortag, die abseits der anderen stand. Die habe ich mir reingezogen, mich in die Hängematte gelegt, in mich reingelauscht und festgestellt: „Jetzt geht’s Dir besser – und Du weißt, warum…“
Ich rief meine Frau auf der Arbeit an und erzählte ihr, dass ich wieder tränke, schon seit einem halben Jahr, und mein nächster Schritt wäre über den Hausarzt in die Entgiftung. Sie war fassungslos. Ich habe mich für nichts geschämt – nur dafür, sie belogen zu haben.
Das war im Februar 2011. Langzeittherapie und Selbsthilfegruppe wollte ich immer noch nicht, aber ich habe nach der Entgiftung die Motivationsgruppe besucht. Und trotz allem wieder einen Rückfall gebaut. Anders ausgedrückt, war ich gar nicht richtig trocken. Es hatte sich ja auch nichts verändert. In der Ehe war ich immer noch nicht zufrieden, Arbeit hatte ich auch noch nicht, nur meine ehrenamtliche Tätigkeit im Schwimmbad als Badeaufsicht und Schwimmlehrer – was natürlich mit Alkohol auch absolut gar nicht ging. Einmal habe ich mich selbst wieder rausgezogen und drei oder vier Wochen nicht getrunken, und dann wieder Volldampf bis zur nächsten Entgiftung.
Diesmal stellte ich aus eigenem Entschluss Antrag auf eine stationäre Therapie, die genehmigt wurde und von November 2011 bis Ende Februar 2012 lief.
Danach hatten alle große Hoffnungen: Ich selbst, meine Frau, meine Stieftochter, meine Freunde und Vereinskollegen vom Schwimmbad. Ich besuchte die ambulante Nachsorge und auch eine AA-Gruppe.
Trotzdem: Es hatte sich immer noch nichts geändert, und immer noch war ich nicht zufrieden. Immer noch suchte ich Anlässe und Schuld – meist bei meiner Frau, denn es wurde immer noch nicht besser. Es wuchs wohl, wie sie einmal sagte, ein zartes Pflänzchen, aber das habe ich zertreten mit meiner Ungeduld und mir so wieder Frust aufgebaut, den ich erneut mit Alkohol ertränkt habe, gerade einmal zwei Monate nach der Rückkehr aus der Klinik.
Es folgten abwechselnd nasse und trockene Wochen, im Schnitt war ich von Mai bis August einmal pro Monat in der Entgiftung. Manches Mal wurde ich aggressiv, nicht gegen Lebewesen, aber ich habe den einen oder anderen Gegenstand zerschlagen oder per Hand Holzabfälle zerkleinert. Meine Mädels hatten (natürlich!) Angst, dass sie irgendwann mal Ziel oder Opfer meiner Ausraster werden könnten.
Das schlimmste Wochenende war Anfang August, als ich drei Tage derart soff, dass ich mich an kaum etwas erinnere. Nach dem, was meine Frau und meine Stieftochter erzählten, muss ich da wohl zeitweise delirant gewesen sein: Ich habe anwesende Personen nicht wahrgenommen, mich aber mit nichtexistenten Leuten unterhalten. Und ich habe gesagt: „Entweder saufe ich jetzt, bis ich hinüber bin, oder ich kletter‘ auf den Strommast gegenüber.“ Ich wollte nicht mehr, es erschien mir alles sinnlos. Ich habe wohl auch gesagt, ich hätte eh Krebs und es wäre Wurst. Frag‘ mich einer, wieso…
Am Dienstag Nachmittag saß ich mit meiner Frau auf dem Rasen im Garten, heulte Rotz und Wasser und befand, ich wollte doch noch leben. Mit dem Stichwort Suizidgedanken als Beschleuniger saß ich über den Hausarzt ruckzuck wieder in der Klinik. Drei Tage Schnelldurchlauf, rein körperliche Entgiftung also. Während dieser Zeit reichte meine Frau die Scheidung ein. Sie sagte, dass ein Zusammenleben mit mir zwar ohne Trauschein möglich wäre, wenn ich denn trocken wäre, aber sie brauchte eine rechtliche Grundlage, um mich im Falle des Falles aus dem Haus zu kriegen. „Es liegt in deiner Hand“, waren ihre Worte.
Mit dem primären Ziel, meine Ehe zu retten, stellte ich erneut einen Antrag auf Therapie. Er wurde genehmigt, und zu meiner Freude sollte die Therapie in derselben Klinik stattfinden wie meine erste, wieder über die Jahreswende von November bis Januar. Während der Zeit bis dahin trank ich weiter, und es waren auch Ausraster dabei.
Am 30.Oktober 2012 fuhr ich los nach Neuenkirchen-Vörden und wurde von dort erst mal zur Entgiftung umgeleitet. Während der Therapie habe ich speziell auf Themen wie Vertrauensbildung, Kommunikation, Partnerschaft und Sexualität, Toleranz usw. hingearbeitet. Alles war immer noch darauf ausgerichtet, meine Ehe zu erhalten. Das erste Paargespräch mit meiner Bezugstherapeutin lief durchaus positiv, die Zeichen standen für mich und meine Frau eher noch in Richtung „zusammen“. Im Dezember war ich ein Wochenende zu Hause, zuerst fühlte ich mich unwohl: Die Stimmung war kühl und abweisend. Als ich mit meiner Frau darüber gesprochen hatte, sagte sie, sie hätte ja nun auch nicht gewusst, was sie erwartet. Der Abschied am Sonntag war durchaus warm und herzlich. Gesamteindruck: Positiv.
Zu Weihnachten hieß es, ich wäre bei den Schwestern meiner Frau nicht wirklich willkommen, so dass ich in der Klinik blieb, was durchaus nett war. Für mich eine neue Erfahrung, denn ich war Weihnachten noch nie woanders als bei meiner Familie. In der Klinik war alles wirklich sehr schön gemacht: Deko, Essen, Veranstaltungen – alles vom Feinsten. Auch habe ich mit meiner Frau noch nett telefoniert.
Silvester war für alle grundsätzlich Ausgangssperre. Auch hier war – das kannte ich noch vom Vorjahr – mit gutem Essen und allerlei Kurzweil zu rechnen. Womit ich nicht gerechnet hatte, kam am Morgen. Da abends ja immer mit belegten Leitungen zu rechnen ist, rief ich meine Frau schon gegen 9 Uhr an. Sie war kurz angebunden, einsilbig, druckste herum, und ich fragte, was denn los wäre. Sie platzte heraus: „Ich möchte die Trennung durchziehen.“ Für mich brach eine Welt zusammen, und das 8 Tage vor meiner Entlassung!
Als erstes rief ich einen Freund an, danach begab ich mich unmittelbar zur diensthabenden Therapeutin. Während des Gesprächs rief ich meine Frau noch an, weil ich ihr sagen wollte, dass ich „in Sicherheit“ wäre. Insofern bin ich ihr dankbar, dass sie sich zu dem Schritt noch während meines Klinikaufenthaltes entschlossen hatte. Wäre sie erst damit rübergekommen, als ich zu Hause gewesen wäre – ich glaube, die nächste Flasche wäre meine gewesen.
So aber habe ich sofort Antrag auf Verlängerung gestellt.
Am 4. Januar hatten wir das zweite Paargespräch mit meiner Bezugstherapeutin. Meine Frau eröffnete mir zu Beginn, dass sie zwischendurch eine Affäre gehabt hätte. Ich verstand die Welt nicht mehr:
Dieselbe Frau, die mir gegenüber seit etwa zwei Jahren behauptet hatte, sie bräuchte keinen Sex, außerdem wäre ihr das peinlich; sie wäre völlig normal und es fiele ihr nicht ein, sich helfen zu lassen – dieselbe Frau sprang für eine Nacht mit einem anderen Kerl in die Kiste! Sie gestand dann, das wären nur Schutzbehauptungen gewesen (ich warf ein, dass ich so etwas Lüge nenne) und dass sie eigentlich nur mit mir nicht mehr wollte.
Ich erklärte ihr, dass ich unsere Ehe noch nicht aufgeben wollte, dass ich sie noch liebte und wir kamen überein, eine Paartherapie in Angriff zu nehmen. Ich muss dazu sagen, dass meine Frau mir nach meinem Gefühl die Schuld am Scheitern unserer Ehe zuwies, denn ich hatte ja getrunken und sie respektlos behandelt. Genau so kann ich aber ihr die Schuld zuweisen, denn sie war ja nicht bereit, auf meine Bedürfnisse einzugehen. Das wären die Punkte zum Bearbeiten gewesen. Es gehören zwei dazu, und wir hätten schon beide den Karren aus dem Dreck ziehen müssen. Ich wäre nicht bereit gewesen, mich allein zu ändern, und das sagte ich auch.
Darauf hin bekam ich zwei Wochen Verlängerung und kam nach Hause, als meine Frau mit ihrer Schwester drei Wochen im Urlaub war. Davon wußte ich; ich hatte also so gesehen fünf Wochen Zeit gewonnen, um konkrete Maßnahmen in Therapie- und Berufsangelegenheiten zu ergreifen.
Ich kam jedoch dahinter, dass meine Frau inzwischen Partnerbörsen im Internet frequentierte und ein Profil veröffentlicht hatte sowie eMail-Kontakt zu einem weiteren Mann hatte. Darauf angesprochen, erklärte sie mir, sie täte, was sie wollte, sie wäre frei; die Paartherapie würde sie nur mit mir machen, damit man mir von dritter Seite sagen würde, dass es mit uns keinen Sinn mehr hätte.
So kam es dann auch: Die erste Sitzung beim Paartherapeuten war auch die einzige – aber sie war dennoch sinnvoll, denn es wurden die Dinge ausgesprochen, die gesagt werden mussten: Meine Frau liebte mich nicht mehr und sagte, ich könnte ihre Gefühle nicht erzwingen. Damit ist die Basis einer Ehe nicht mehr gegeben. Ich habe gekämpft bis zum Schluss, musste aber einsehen, dass ich verloren hatte. Damit hat es keinen Sinn, Energie „nach hinten“ zu verschwenden, denn an dem Geschehenen kann ich nichts mehr ändern. Wir hätten schon früher ernsthaft daran arbeiten sollen, uns trennen können und und und… Haben wir aber nicht, und vorbei ist vorbei.
Und ich weiß inzwischen von ihr: Zum Schluss lag es nicht mehr in meiner Hand. Sie hat über die Jahre angefangen, sich von mir zu entfernen, und „irgendwann wurde es ganz leicht, loszulassen…“
Ich sehe ein, daß wir beide nicht mehr zusammen glücklich werden können oder zumindest nicht beide zusammen. Das ist ein feiner Unterschied, aber aus beiden Möglichkeiten entsteht die Möglichkeit für Frust, Enttäuschung, depressive Episoden und womöglich auch erneute Rückfälle. In diesem Sinne also:
Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende!
In diesem Sinne sind wir uns einig, und die Trennung demzufolge weitestgehend „gütlich“.
Und nach 18 Jahren Zusammensein, davon 16 Jahre verheiratet, ist bei weitem nicht alles schlecht gewesen. Es sind zehn, zwölf gute Jahre, an die wir uns erinnern können, und das haben wir uns so auch gesagt.
Meine zukünftige Ex-Frau hat sich eine eigene Wohnung genommen, ich bewohne fürderhin weiter das Haus, welches ihr gehört. Wir werden das über Unterhalt und Anrechnung regeln, und wenn die Scheidung durch ist, wird vielleicht ein Mietverhältnis daraus, je nachdem, wo für mich die Reise hingeht – das hängt auch vom Beruflichen ab.
Ich lebe also zur Zeit allein, dies soll aber nicht so bleiben. Und ich schaue vorwärts. Ich muss mir ein eigenes Leben aufbauen, und das will ich auch. Und das geht nur nüchtern! Zunächst habe ich ein 12wöchiges Wegbereitungsprogramm (von der ARGE finanziert), an dessen Ende im Idealfall im Herbst eine Umschulung steht. So etwas brauche ich, denn nach 12 Jahren Hausmann gelte ich quasi als ungelernt.
Für mich ist erst einmal der Moment wichtig oder eben die 24 Stunden.
Ich lebe. Bewusst. Ich achte auf mich. Ich mache Dinge, die mir guttun. Ich besuche meine Gruppe. Ich versuche, aus dem, was mir passiert ist, zu lernen. Besser spät als nie. Ich merke, dass es Menschen gibt, denen ich nicht egal bin, sondern denen ich etwas bedeute. Diesen Menschen danke ich!
Ich kann nicht von jetzt aus meine komplette Zukunft planen, und das will ich auch gar nicht. Das alte Denkschema „120% und zwar sofort!“ hat mich schon oft genug in die Enttäuschung und den nächsten Absturz geführt. Irgendwann wird irgendwo schon irgendwas kommen, wenn ich es zulasse. Und wenn ich nicht gleich sage: „Das wird sowieso nichts.“
Und wenn ich anfange.
Nachtrag Januar 2015
Inzwischen hat sich bei mir einiges verändert. Ich lebe immer noch abstinent, wohl entschlossener als zuvor, denn die eine oder andere Krise habe ich inzwischen durchlebt. Zuerst wäre die Geschichte mit der Umschulung zu nennen. Nachdem es mir als einem der Wenigen gegen Ende der Vorbereitungsmaßnahme tatsächlich gelungen ist, einen Praktikumsplatz zu bekommen, der auch zur Ausbildung mit evtl. Übernahme geführt hätte, zerschlug sich jegliche Hoffnung nach wenigen Tagen im Betrieb.
Mich überkam plötzlich wieder eine der altbekannten Panikattacken, ich war wie gelähmt und handlungsunfähig, musste nach Hause. Ich fing an, mich in eine Endlosschraube zu drehen: Anforderungen, diese nicht erfüllen können, Angst davor usw. Resultat war ein depressives Tief, das mich wieder in Behandlung führte. Hausarzt, Krankschreibung für zwei Tage. Am nächsten Wochenanfang das gleiche Spielchen: Morgens halb sieben, die Tröte in der Halle ging und das Tor fuhr zu – und für mich ging gar nichts mehr.
Hochgehalten hat mich in der Zeit der Chat hier von T-Alk. Nach einigem Überlegen und ein paar Besprechungen reifte in mir der Plan, eine teilstationäre Therapie zu machen im Hinblick auf Angst und Panik. Wichtig ist mir vor allem, eine Stabilität zu erreichen und zu halten, die meine Abstinenz auf sicheren Füßen stehen lässt. Die Therapie wurde beantragt und auch genehmigt.
Währenddessen ergab sich eine weitere Veränderung: Hier im Chat lernte ich meine jetzige Partnerin Tsekyi (Thyi) kennen, und Ende November 2013 trafen wir uns zum ersten Mal bei mir und waren für ein paar Wochen zusammen, bis wir vor einer Situation standen, die ihrerseits angstbedingt eine Partnerschaft unmöglich erscheinen ließ und wir uns trennten. Damit waren wir allerdings beide so unglücklich, dass wir drei Tage später beschlossen, doch zusammen zu bleiben und an einer Lösung zu arbeiten, da ich auch um die Beziehung kämpfte. Sie ist ebenfalls abstinente Alkoholikerin mit Therapieerfahrung, so haben wir eine gemeinsame Basis, die es uns ermöglicht, im Grunde alle Dinge sehr tiefgreifend miteinander zu besprechen – eine Situation, in der die Beziehung an nicht Ausgesprochenem erstickt, sollte somit (hoffentlich) nicht eintreten.
Es folgten für mich dann Anfang 2014 acht Wochen teilstationäre Therapie (Tagesklinik) in der Nähe meines Wohnortes. Hier machte ich die Erfahrung, dass ich auch mit meinen Ängsten nicht alleine bin und dass es Menschen gibt, die eine Panikattacke genau so erleben wie ich. Das hat mir sehr geholfen, und wichtig ist auch hier die grundsätzliche Regel: Es geht vorbei! Mir hat die Zeit dort sehr gut getan, und ich hoffte, danach einen Ansatz zu finden, um wieder ins Berufsleben einsteigen zu können. Allerdings sehe ich mich zur Zeit immer noch nicht in der Lage dazu.
Auch räumlich hat sich eine Veränderung ergeben: Im Mai 2014 zog ich in die Stadt, in der meine Partnerin lebt: Kassel. Die 280km zwischen unseren Wohnorten waren auf Dauer etwas hinderlich. Einerseits natürlich schön, nah bei ihr zu sein, andererseits bedeutete das für mich auch eine gewaltige Umstellung vom Haus auf dem Land mit großem Grundstück auf eine 80qm-Etagenwohnung. Nicht ganz einfach! Fest steht aber auch, dass Kassel für uns beide nicht der endgültige Ort unseres Lebens bleiben wird, sondern es zieht uns im Grunde nach Norden. Jedoch gilt diesbezüglich zunächst: Eile mit Weile, denn zur Zeit mache ich hier in Kassel eine psychoanalytische Therapie, und da soll erst einmal ein bisschen was bei herauskommen.
Und bislang lebe ich immer noch nach dem Motto:
Was immer auch passiert – es ist kein Grund zum Trinken, und dadurch würde es auch nicht besser.